Behandlung zuhause führt zu erfolgreicherer Therapie von HIV-Patienten
Selbst in der reichen Schweiz wissen viele Personen mit einer HIV-Infektion monatelang nichts von ihrer Ansteckung – und stehen so lange auch nicht unter Behandlung. Das ist für die Betroffenen schlecht, weil sie bei fehlender Diagnose nicht von den wirksamen antiretroviralen Medikamenten profitieren. Zudem können nicht erkannte Patienten weitere Personen anstecken, was bei korrekter Behandlung verhindert würde.
Dieses Problem ist im südlichen Afrika, wo teilweise ein Viertel der erwachsenen Personen mit dem Aids-Erreger infiziert ist, noch um ein Vielfaches verschärft. Besonders in abgelegenen Bergregionen ist der Zugang zu HIV-Tests und Behandlungsmöglichkeiten oft erschwert. Wo nur ein mehrstündiger Fussmarsch zum nächsten Gesundheitszentrum führt, bleiben viele Patienten von der lebenswichtigen Therapie ausgeschlossen.
6660 Haushalte besucht
In dieser Situation gibt es nur eine Lösung: Der HIV-Test und die HIV-Therapie müssen zu den Leuten gebracht werden. Wie gut ein solcher Ansatz in der Realität funktioniert, wollte ein Forscherteam unter der Leitung von Niklaus Labhardt vom Schweizerischen Tropen und Public Health Institut herausfinden. Das Projekt «Continuum of Care Cascade (CASCADE)» setzte an allen Stellen vom ersten Test über die Diagnose und bis zur Erst- und Langzeitbehandlung ein. Dafür besuchten Feldteams des Schweizer Hilfswerks Solidarmed 6660 Haushalte in 60 abgelegenen Dörfern und 17 städtischen Gebieten im Norden des Landes. Zusammen mit einheimischen Laienberatern klopften sie an jede Hütte und boten den Bewohnern einen freiwilligen HIV-Test an. 11590 Erwachsene erhielten den Test. 441 Tests fielen positiv aus.
Bei nachgewiesener Infektion wurden die Betroffenen über die Notwendigkeit einer Therapie informiert. Die eine Hälfte der knapp 300 in eine Studie aufgenommenen Patienten erhielt danach die benötigten Medikamente gleich in die Hand gedrückt; die andere Hälfte wurde gemäss derzeitigem Standardvorgehen aufgefordert, sich für die Behandlung im nächsten Gesundheitszentrum zu melden.
Schnellere und erfolgreichere Therapie
«Mit der Heimbehandlung können wir den HIV-Patienten schneller und erfolgreicher eine Therapie anbieten», sagt Niklaus Labhardt. Tatsächlich nahmen in der Heimgruppe drei Monate nach Diagnosestellung noch 69 Prozent der Patienten ihre Medikamente ein. Das sind ein Viertel mehr als beim herkömmlichen Ansatz (43 Prozent). Auch längerfristig war die Heimgruppe besser dran. So liessen sich ein Jahr nach Behandlungsbeginn bei jedem zweiten Patienten keine HI-Viren mehr im Blut nachweisen, was für eine optimale Therapie spricht. Beim konventionellen Betreuungsansatz betrug diese Rate 34 Prozent.
Ein wichtiges Detail: Betrachtet man nur jene Patienten, die nach einem Jahr noch behandelt wurden und bei denen die Viruslast bestimmt wurde, zeigt sich, dass bei 95 Prozent der Patienten die Viren komplett unterdrückt waren. «Das ist fast so gut wie in der Schweiz», sagt Labhardt. Es zeige auch, dass die in der Region zur Verfügung stehenden Medikamente wirksam seien. Dennoch müsse man die Resistenzsituation genau im Auge behalten. Dazu konnte im Labor eines Regionalspitals ein Labor für Resistenztest eingerichtet werden, wo während gut drei Jahren bis im Februar 2019 17000 Patienten getestet wurden.
Resultate fliessen in WHO-Richtlinien ein
Das Vorgehen habe Modellcharakter, auch für gewisse osteuropäische Länder, wo das HI-Virus ebenfalls nicht unter Kontrolle sei, sagt der HIV-Experte Manuel Battegay vom Universitätsspital Basel, der selber nicht an der Studie beteiligt war. Mit der kombinierten Heimtestung und Heimbehandlung würden zwei zentrale Probleme in der Behandlungskette angesprochen, wo viele Patienten für die Therapie verloren gingen, erklärt Battegay. Die WHO hat die Erkenntnisse des Projekts in Richtlinien zum schnellen Start von antiretroviralen Behandlungen eingefügt. Ausserdem sind die Resultate von CASCADE in Strategien verschiedener Länder eingeflossen.
Trotz allen Fortschritten zeigt die Lesotho-Studie aber auch, wie weit entfernt die Resultate noch vom sogenannten 90-90-90-Ziel der Weltgesundheitsorganisation sind: Statt 69 Prozent sollten weltweit 90 Prozent der diagnostizierten HIV-Patienten unter einer Therapie stehen; und statt der in der Studie erreichten 50 Prozent sollten 73 Prozent der HIV-Infizierten nach einem Jahr keine HI-Viren mehr im Blut haben.
Sind die «Fehlbeträge» möglicherweise der Angst der Bewohner vor Stigmatisierung und Ausgrenzung geschuldet? Niklaus Labhardt verneint. Das erlebe er in Lesotho nicht mehr so oft, denn das Virus sei in den Familien so stark verbreitet, dass es schon fast zum Alltag gehöre. Es gibt weitere Gründe, weshalb Labhardt zuversichtlich ist, dass das WHO-Ziel in Lesotho noch zu erreichen ist. Dazu zähle etwa das Engagement der Regierung, die sehr offen sei für neue Ideen. Zudem sei das Land klein und für afrikanische Verhältnisse relativ gut organisiert, was die Patientenversorgung erleichtere.
Das 90-90-90-Ziel der WHO
90% von HIV-Infizierten Personen sind diagnostiziert.
90% der diagnostizierten Personen erhalten HIV-Medikamente.
90% der Personen mit Medikamenten werden mit Virussuppression therapiert.
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Sources
Kontakt:
Dr. Niklaus Labhardt
n.labhardt@unibas.ch
Schweizerisches Tropen und Public Health-Institut, Basel, Schweiz.
Projekt:
r4d-Projekt “Improving the HIV care cascade in Lesotho: Towards 90-90-90 – A research collaboration with the Ministry of Health“
https://www.swisstph.ch/de/projects/hiv-care-research-in-lesotho/
http://www.r4d.ch/modules/thematically-open-research/hiv-care-cascade
Kontext:
Aufdatierte Version des Artikel «Die Therapie beginnt in der Hütte», zum ersten Mal erschienen in der NZZ vom 6.3.2018
https://www.nzz.ch/wissenschaft/neues-hiv-behandlungskonzept-fuer-problemlaender-ld.1363395