
Spuren eines harten Lebens: Zunehmende psychische Erkrankungen in Subsahara-Afrika
Schaut man, wie sich Depressionen und Ängste in wohlhabenden, industriell entwickelten Ländern von jung bis alt verteilen, so zeigt sich ein umgekehrtes U: Das Plateau der höchsten Werte erstreckt sich über die mittlere Altersgruppe. Jene, deren Arbeitsbelastung und Verantwortung in der Regel am grössten sind, sind also am meisten von Ängsten und Depressionen betroffen. Im Alter hingegen sinkt die Kurve ab. Seniorinnen und Senioren in Industriestaaten leiden vergleichsweise seltener unter Depressionen oder Angststörungen und fühlen sich subjektiv sogar häufig besser als in jüngeren Lebensjahren.
Hat dieser Befund universelle Gültigkeit? Iliana V. Kohler, James Mwera und ihr Team haben dies im südostafrikanischen Binnenland Malawi untersucht. Dort zeigt sich ein ganz anderes Muster: In Malawi nimmt die Anfälligkeit für Depressionen und Ängste zu, je älter jemand wird. Gleichzeitig nimmt mit dem Alter auch die Schwere der Depressionen zu.
Die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen und Männer in Malawi beträgt heute 64 Jahre. Der Alterungsprozess ihrer Körper verläuft allerdings schneller als in reichen Ländern. Gründe dafür sind der zeitlebende Kontakt mit infektiösen Krankheiten, die stärkere körperliche Belastung, Mangelernährung und Armut. Eine Faustregel sagt, man solle zehn Jahre dazurechnen, um die körperliche Abnutzung der Menschen in Malawi richtig einzuschätzen (siehe Box 1).

Bild 1: Eine Bäuerin spricht über ihre Erfahrungen im Umgang mit der Diagnose Bluthochdruck und die damit verbundenen Ängste. Bildausschnitt aus Digital Storytellers video-clip Treating the causes of depression in Malawi.
Psychische Gesundheit gewinnt an Bedeutung
«Psychische Krankheiten sind in Malawi und anderen Ländern Subsahara-Afrikas leider immer noch stark stigmatisiert», so die stellvertretende Direktorin des Population Studies Center der Universität Pennsylvania und Studienleiterin in Malawi, Iliana V. Kohler. «Wir betrachten es darum primär als unsere Aufgabe, Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen.» Die psychische Gesundheit ihrer Bevölkerung wird für die Gesellschaften und Gesundheitssysteme vieler Länder des globalen Südens von immer grösserer Bedeutung werden. «Malawi hat heute nur eine eingeschränkte psychologisch-psychiatrische Infrastruktur», so Iliana V. Kohler. Niederschwellige Angebote in der Nähe der Menschen, professionelle medizinische Diagnosestellung und Beratung fehlen fast gänzlich.
Mens sana in corpore sano: gesunder Körper, gesunder Geist
Körperliche Krankheiten und Beschwerden, so fanden die Forschenden heraus, sind in Malawi der wichtigste Grund psychischer Leiden. Auch soziale oder wirtschaftliche Schocks – wie der Tod eines Familienmitglieds, das wesentlich zum Einkommen beitrug, oder der Verlust von Vieh, Feld oder Haus durch Naturgewalten – können mit psychischen Erkrankungen korrelieren. Die Unterschiede zwischen jung und alt erklären sie aber nicht. Mit anderen Worten: Ein Schock kann jeden treffen, eine körperliche Krankheit dagegen trifft in Malawi vorwiegend ältere Menschen.
«Es passiert häufig, dass langanhaltende körperliche Schmerzen zu Depressionen führen», erzählt eine Schweizer Psychiaterin aus ihrer Praxis. Lasse sich eine Krankheit aber – wie zum Beispiel Diabetes – gut behandeln und medikamentös einstellen, bestehe dieser Zusammenhang nicht. Dass körperliche Krankheiten in Malawi oft weder diagnostiziert geschweige denn adäquat behandelt werden, leistet ihren negativen psychischen Folgen also erheblich Vorschub.
Arbeiten bis zum Umfallen
Alt werden in Malawi ist etwas völlig anderes als in einem Land mit guter sozialer Absicherung: «Die grosse Mehrheit der Bevölkerung kennt weder einen Ruhestand noch eine Altersrente», so der Malawier und Projektleiter vor Ort, James Mwera. «Als Kleinbauern versorgen sie sich einerseits selber, häufig aber auch noch ihre Enkelkinder und das nicht selten bis in deren Erwachsenenalter.» Auch für die Pflege der HIV-Kranken sind die Alten unentbehrlich.
Das HI-Virus machte in Malawi viele zu Waisen, die in der Folge bei ihren Grosseltern aufwuchsen, sofern diese noch lebten. Viele Junge ziehe es später in die Städte, aber es sei für sie schwierig, eigenständig zu werden, so James Mwera, der bei der Forschungsförderungsorganisation Invest in Knowledge Initiative arbeitet: «Also ernähren die Grosseltern sie mit ihren Selbstversorgerbetrieben weiter und müssen schlimmstenfalls auch noch ihre Rechnungen bezahlen.»
Auch die Frauen arbeiten in Malawi bis ins hohe Alter. Neben der Mithilfe in der Landwirtschaft sind sie für alle klassischen Aufgaben im Haus verantwortlich sowie für das Herbeitragen von Wasser und Brennholz. Man braucht nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, dass Schmerzen oder körperliche Einschränkungen in einem solchen Kontext Ängste und Depressionen auslösen können.
Immer mehr Alte, die immer länger leben
Eine HIV-Infektion ist heute – anders als in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren – auch in Malawi kein Todesurteil mehr. Infizierte können dank retroviralen Therapien überleben. Rund ein Zehntel der malawischen Bevölkerung trägt das HI-Virus in sich. Auch andere ansteckende Krankheiten wie Cholera, Tuberkulose und Malaria konnten in den letzten Jahrzehnten erheblich zurückgedrängt und die Kindersterblichkeit gesenkt werden. Dies führte in Malawi seit 1989 zu einer durchschnittlich 20 Jahre längeren Lebenserwartung und einer wachsenden Anzahl älterer Menschen, was erfreulich ist. Wäre da nicht ihre oft schlechte Lebensqualität.
Man erwartet, dass die Altersgruppe jener, die 45-jährig und älter sind, in Malawi bis 2065 viermal schneller wächst als in entwickelten Ländern. Auch wenn die Basis junger Menschen bei dieser Pyramide viel breiter und tragender ist als in Industrieländern, ist dies ein gewaltiger Strukturwandel. Malawi wird jetzt mit Bedürfnissen konfrontiert, die es bisher nicht kannte.

Bild 2: James Mwera von der Invest in Knowledge Initiative (IKI) in Malawi erläutert den Ansatz der Malawi Longitudinal Study of Families and Health (MLSFH). Bildausschnittaus Digital Storytellers video-clipTreating the causes of depression in Malawi.
Negative Effekte auf die Wirtschaftsentwicklung
Depressionen und Ängste haben enorme negative Implikationen für die Betroffenen, ihr soziales Umfeld und auf einer höheren Ebene auch für die Volkswirtschaft. Auf eine Billion US-Dollar beziffert die WHO in einer Studie von 2016 die jährlichen weltweiten Kosten von Depressionen und Angststörungen. Sie geht davon aus, dass für jeden Dollar, der in die Behandlung von Ängsten und Depressionen investiert wird, vier Dollar Gewinn in Form von besserer Gesundheit und höherer Arbeitsproduktivität zurückkommen könnten.
Die Ergebnisse von Iliana V. Kohler, James Mwera und ihrem Team zeigen, dass bereits eine milde Depression zu einem 15% geringeren Arbeitseinsatz und zu 15% weniger Einkommen führt. Bei moderaten oder starken Depressionen erreichen diese Werte 50 bis 100%. Für die Entwicklung eines Landes wie Malawi ist das besonders einschneidend.
Es gibt viel zu tun
Nicht übertragbare, oft chronische Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Ängste und Depressionen verdrängen immer mehr die übertragbaren wie HIV-Infektionen, Tuberkulose oder Malaria. Entsprechende Anpassungen der Gesundheitssysteme sind dringend nötig und fordern sowohl die nationale als auch die internationale Politik heraus. Denn wie die Untersuchungen von Iliana V. Kohler und James Mwera zeigen, lassen sich Erfahrungen aus dem Norden nicht eins zu eins auf den Süden übertragen.
Doch wo anfangen? Der Aufbau eines Versorgungsnetzes, das sowohl die körperliche als auch die psychische Gesundheit einbezieht und wenn nötig auch palliativ begleiten und Schmerzen lindern kann, ist eine Herkulesaufgabe, die nicht von heute auf morgen gelöst werden kann. Gerade nicht von einem der ärmsten Länder der Welt, in dem die medizinische Versorgung schon heute bescheiden ist. Aber man kann beginnen, Lösungen auf den Weg zu bringen.
Die Schaffung von Grundlagenwissen, welche das Team um Iliana V. Kohler und James Mwera leistet, ist auch für andere Staaten in Subsahara-Afrika ein wichtiger Schritt (siehe Box 2). Die Daten zeigen deutlich, wo die Brennpunkte und Herausforderungen liegen. Die gesellschaftliche Sensibilisierung für psychische Krankheiten in diesen Ländern wird ihre eigene Zeit brauchen. Erst dann werden Betroffene aus dem Schatten der Stigmatisierung hervortreten, um Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen.

Bild 3:Gemeinsam mit Iliana V. Kohler, University of Pennsylvania, besprechen die Supervisorinnen und -visoren die Fragen der nächsten Untersuchungswelle. Sitzung am Hauptsitz der Invest in Knowledge Initiative (IKI) in Zomba.
Box 1: Malawi
(Quellen: United Nations Department of Economic and Social Affairs, Weltbank, WTO)
Geografie
Malawi liegt im Südosten Afrikas, umgeben von Mozambique, Tansania und Sambia. Es umfasst eine Fläche von 118’500 km2 (entspricht rund 3x der Schweiz). 20% der Fläche entfällt auf den Malawi-See, den drittgrössten See Afrikas. Die Hauptstadt ist Lilongwe.
Politik
Der Theologe und ehemalige Priester Lazarus Chakwera wurde im Juni 2020 mit 60% der Stimmen zum Malawischen Präsidenten gewählt. Seine Wahl war historisch: Erstmals in der afrikanischen Geschichte gewann bei einer verfassungsgerichtlich angeordneten Wahlwiederholung die zuvor unterliegende Seite. Der Machtwechsel war – abgesehen von Konfrontationen zwischen Demonstrierenden und der Polizei – friedlich. Er war auch ein Sieg der Zivilgesellschaft, Gewaltenteilung und Demokratie. Die Zeitschrift «The Economist», die jährlich einen Demokratieindex publiziert, beschreibt Malawi als «Hybridregime» aus demokratischen und autoritären Elementen.
Bevölkerung
18,6 Millionen Einwohnende zählte Malawi 2019. Bis 2050 wird sich die Bevölkerung voraussichtlich mehr als verdoppeln. 44% der Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche zwischen 0 und 14 Jahren, 54% sind 15 bis 64 Jahre alt. 65-Jährige und älter machen 2% der malawischen Bevölkerung aus. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen beträgt heute 67 Jahre, jene für Männer 61 Jahre.
62% der Malawierinnen und Malawier können lesen und schreiben. 65% haben pro Tag weniger als 2 US-Dollars zur Verfügung.
Wirtschaft
85% der Malawierinnen und Malawier leben als Kleinbauern auf dem Land. Die meisten dieser Betriebe sind weniger als eine Hektare gross. Dennoch produzieren sie 80% der Nahrungsmittel für das ganze Land. Auf Plantagen von Grossgrundbesitzern wachsen Tabak, Zuckerrohr, Tee und Baumwolle, die als Cash-Crops wichtige Devisen einbringen.
Ein konstant wachsender Dienstleistungssektor ist nach der Landwirtschaft zweitwichtigster Wirtschaftsbereich. Sein Anteil am BIP beträgt 53%, jener der Landwirtschaft 32% (2019). Der Rest entfällt auf die Industrie.
Malawi ist eines der ärmsten Länder der Welt. Nach dem aktuellen Human Development Reportder Vereinten Nationen nimmt es von 189 untersuchten Staaten den 172 Platz ein. Das BIP betrug 2018 rund 7 Millionen US-Dollars. Dies entspricht einem durchschnittlichen monatlichen Pro-Kopf-Einkommen von 32 US-Dollars.

Bild 4: Ein Mitglied des Forschungsteams auf Hausbesuch.Bildausschnittaus Digital Storytellers video-clipTreating the causes of depression in Malawi.
Box 2: Einmalige Datengrundlage
Grundlage der Malawi-Studie ist die Malawi Longitudinal Study of Families and Health (MLSFH), eine Langzeituntersuchung von rund 4’000 Personen in verschiedenen ländlichen Regionen Malawis. Die Mehrheit der Malawierinnen und Malawier sind Kleinbauern. Diese Menschen werden seit 1998 rund alle zwei Jahre ausführlich befragt und untersucht. Während der Fokus ursprünglich vor allem auf Familien, sozialen Netzwerken und dem Umgang mit HIV lag, brachte Iliana V. Kohler, als sie 2010 zum Team stiess, die Frage nach der Lebensqualität im Alter ein. Seitdem werden in einer Stichprobe von rund 1’600 Erwachsenen (alle in der MLSFH, die 45 und älter sind) zusätzlich das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit erfasst.
Die Daten zeigen, dass Depressionen und Ängste stark mit weniger Arbeitsleistung, weniger Einkommen und Ersparnissen, geringerer sexueller Aktivität und schlechterer Ernährung, insbesondere weniger Eiweisskonsum, korrelieren. Deutlich mehr Frauen als Männer geben an, von Depressionen und Ängsten betroffen zu sein. Bessere Bildung korreliert mit besserer psychischer Gesundheit. Kein Zusammenhang besteht zwischen psychischer Gesundheit und Religion.
Die einmalige Fülle an Langzeitdaten der MLSFH ermöglicht viele Analysen und liefert Erkenntnisse mit grossem praktischem Wert. «Wie wirkt sich eine Ehescheidung in Malawi auf die psychische Gesundheit der betroffenen Männer und Frauen aus? Ein, fünf, zehn Jahre später?» lautet nur eine der weiteren Fragestellungen, die die Forschenden untersuchen.
Die Leute nähmen gerne an den Befragungen teil und schätzten die medizinischen Ratschläge, die sie erhielten, so Iliana V. Kohler. «Wir stellen keine Diagnosen, aber wenn jemand einen hohen Blutdruck hat, geben wir der Person einen Brief mit, sie möge sich in einem Spital untersuchen lassen.» Das habe sehr gute Effekte. 2020 hätte eine neue Befragungswelle stattfinden sollen. Sie wurde durch eine Telefonumfrage mit Fokus auf Covid-19 ersetzt.
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Sources
Kontakt:
Iliana V. Kohler, iliana@upenn.edu; University of Pennsylvania, USA; James Mwera, jamesmwera@gmail.com; Invest in Knowledge Initiative IWI, Malawi
Projekt:
r4d Inclusive social protection for chronic health problems; https://r4d-ncd.org/; http://www.r4d.ch/modules/public-health/inclusive-social-protection
Andere Posts dieses Projektes:
Digital Storytellers video-clip Treating the causes of depression in Malawi
Englische Version dieses Artikels hier.